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Wanderung zum KZ Leonberg

22. August 2020 | von Gaia Quintini

„Wir werden die Gespenster einer vergangenen Welt sein und ich habe Angst, dass keiner daran erinnert werden will, was geschehen ist.“

Dieses Zitat des Überlebenden Coen Rood begrüßt einen am Eingang des ehemaligen Autobahntunnels von Leonberg, in welchem Häftlinge die Trägflächen von Düsenjägern herstellen mussten. Als ich den Satz las, stellte ich zunächst mit Erschrecken fest, dass ich diesem in den 70er-Jahren getätigten Satz zustimmte – denn nach meinen eigenen Erfahrungen sind Jugendliche und junge Erwachsene (und sicher nicht nur die) der Geschichte überdrüssig geworden. Sie haben keine Lust, „wieder und wieder“, wie es heißt, den Nationalsozialismus zu behandeln, dabei wird er meiner Erfahrung nach gar nicht genug behandelt. Insbesondere was die (Einzel-)Schicksale Deportierter angeht. Kann man ein solches Thema überhaupt „genug“ oder „zuviel“ behandeln? Ich finde nicht, denn in dem Moment, in dem ein Schlussstrich gezogen wird, fängt das Vergessen an und dann kann sich alles wiederholen. Und unsere Gesellschaft bewegt sich gefährlich darauf zu.

Dann aber dachte ich: Wir sind hier. Und solange wir hier sind, sind wir noch so wenige, kann das Zitat nicht stimmen. Denn wir wollen es wissen. Wir wollen Zuhören. Und einige von uns wollen auch Erzählen. In einer Zeit, in der die letzten Überlebenden und Zeitzeugen wegsterben, ist es umso wichtiger, zuzuhören. Das Gedenken wird nie wieder so sein, wie heute. Wir haben das große Glück, einer Generation anzugehören, die vermutlich als letzte noch mit Überlebenden reden kann. Umso wichtiger ist es, dass wir uns den Satz Coen Roods zu Herzen nehmen, erinnern und an solchen Wanderungen teilnehmen. Dazu passend drehte sich in dieser Wanderung viel um Erinnerungskultur und Denkmäler.

Aus 24 Nationen stammten die Häftlinge, die, nach einer klaren Hierarchie geordnet, für die deutsche Rüstungsindustrie und die Firma Messerschmitt AG arbeiten mussten, zu einem Zeitpunkt, zu dem der Krieg fast verloren war. Unter dem Wikipedia-Eintrag der „Messerschmitt AG“ findet sich lediglich die schwammige Euphemisierung, dass 1944 und 1945 [in Kooperation mit der DEST] vor allem noch unter dem Tarn-Namen „B8 Bergkristall“ beim Konzentrationslager Gusen II bei Linz eine umfangreiche und streng geheime Fließbandproduktion realisiert [wurde]“.

Zur Wahrheit gehört, dass vom Frühjahr 1945 bis April 1945 etwa 5.000 Häftlinge, davon ungefähr 3.000 zur selben Zeit, in diesem Außenlager des KZ Natzweiler-Struthof inhaftiert waren und unter schlimmsten Bedingungen arbeiten mussten. Der jüngste von ihnen gerade einmal 15 Jahre alt. Der Lagerleitung war nicht an der Arbeitsfähigkeit der Häftlinge gelegen; wer nicht mehr arbeiten konnte, der wurden nach Bergen-Belsen deportiert und für ihn kam noch arbeitsfähiger Ersatz – gegen Ende des Krieges sogar Häftlinge aus Auschwitz, die eigentlich für die Gaskammern vorgesehen waren. Wie auch im Überlinger Stollen schufteten die Häftlinge hier in 12-Stunden-Schichten und versuchten danach, sich auf den harten und viel zu wenigen Pritschen auszuruhen. Eine Latrine gab es nicht und die Zivilbevölkerung Leonbergs beschwerte sich nach Erzählung unseres Guides beim Bürgermeister über die „Gülle“, die „von da oben“ runtergeschüttet wurde. Dieselbe Bevölkerung übrigens, die von dem „da oben“ angeblich nichts mitbekommen hatte. Erst im „neuen“ KZ sollten Sanitärlager errichtet werden. Die Gebäude hier waren aus Stein, man plante trotz drohender Niederlage langfristig. Heute ist von dem „neuen“ Lager nur noch ein authentischer Keller übrig, den wir aufgrund der Corona-Pandemie leider nicht betreten konnten. Das „alte“ Lager, welches ein Stück oberhalb des „Neuen“ liegt, wurde zur Seuchenbekämpfung vollständig abgebrannt, es gab in Leonberg einen ziemlich starken Ausbruch an beispielsweise Typhus. Einer der Tunnel, in denen gearbeitet wurde, ist heute noch erhalten und dient als Gedenkstätte. In dieser sind zahlreiche Zitate ehemaliger Häftlinge auf Metallplatten, die dem zu bearbeitenden Material nachahmen, ausgelegt. Auf einem von ihnen wird ein Häftling mit der Aussage zitiert, dass erst desinfiziert worden sei, als die Läuse bereits über die Werkzeuge und Tragflächen krochen. Schon ein einziger lauter Hammerschlag auf Originalmaterial ließ uns alle zusammenzucken und konnte doch nicht ansatzweise den Lärm nachahmen, der während der Arbeiten zahlreicher Männer in dem hallenden Tunnel herrschte. Neben den sehr berührenden und nahegehenden Zitaten Überlebender wurden in der Gedenkstätte Leonberg auch geschichtliche Informationen sowie Illustrationen ehemaliger Häftlinge angebracht.

Um zu diesem „alten“ Lager, beziehungsweise seinen Überresten, zu gelangen, mussten wir vom Bahnhof Leonberg zu Fuß ein Stück durch die Stadt laufen. Entlang dieser Route sind verschiedene Tafeln angebracht, die jeweils einen kurzen Überblick geben. Unser erster Halt war dabei an dem Leonberger Friedhof. Wir hielten vor ordentlich gereihten Gräbern, lediglich Steinplatten, die schön gepflegt und von Blumen umpflanzt sind. Ich dachte zunächst, dies seien die Gräber der im KZ Leonberg ermordeten – ich spreche, wie auch in meinem Bericht zu der Wanderung in Überlingen, aktiv von „ermordeten“ und nicht „verstorbenen“, denn ganz gleich, ob der Grund Schwäche, Krankheit oder Kugel war, zu all diesen Toden wäre es ohne den Holocaust nicht gekommen und all diese Opfer wurden mutwillig und oftmals gezielt in ihren Tod getrieben –, doch ich irrte. Es ist keine Grabstätte für Opfer. Es war eine Grabstätte für gefallene Soldaten. Die Grabstätte für die Inhaftierten befindet sich am Ende des Friedhofs. Hier steht ein weiteres Stationsschild des Weges, auf dem die (bekannten) Namen der Opfer und der Ort ihrer Ruhestätte stehen. Ansonsten befindet sich hier ein Gedenkstein. Die wenigen Tafeln auf der erst seit kurzem mit Blumen bepflanzten Wiese sind privat finanziert, unter anderem von Verwandten der Opfer. Den Friedhof in dieser Reihenfolge zu erleben, war für mich ein ziemlich heftiger Kontrast. Für mich wurde der Eindruck erweckt, die Täter werden glorifiziert – während man die Opfer als „Schandfleck“ versteckt. Sie sollen nicht zufällig gefunden werden. Dazu passend auch die Informationen unseres Guides, die Leonberger täten sich schwer mit (aktivem) Gedenken und würden am liebsten den Mantel des Schweigens über die Vergangenheit hängen.

Dieser Kontrast und das für mich persönlich unverschämte, weil umgekehrte Gedenken sollte sich durch den ganzen Tag ziehen. Anders als in Überlingen wanderten wir nicht die gesamte Strecke, sondern bewegten uns gezwungenermaßen auch mit Bus und S-Bahn. Als wir unsere Wanderung nach einer Pause vom Schloss Solitude aus fortsetzten, trafen wir auf den nächsten Gedenkstein. Schon von weitem konnten wir ihn sehen und in mir stieg sofort die Assoziation eines Erinnerungsortes an die Opfer der NS-Zeit auf. Drei Steine waren so aneinandergesetzt, dass sich zwischen ihnen die Form eines nach unten spitz zulaufenden Dreiecks ergab. Jenes Zeichens also, das auch als Winkel auf den Häftlingskleidungen in KZs verwendet wurde, um Opfergruppen zu kennzeichnen. Als wir jedoch näher kamen musste ich mit Enttäuschung feststellen, dass ich mit meiner Vermutung falsch gelegen hatte. Der Stein erinnerte nicht etwa an die Opfer, sondern ehrte die gefallenen Soldaten. Der Text auf der daneben stehenden Gedenktafel stammt erschreckender Weise aus den 70ern. Erschreckenderweise, weil auf ihm die Soldaten und der Krieg (wieder einmal) glorifiziert werden. Eine Reflexion oder eine kritische Auseinandersetzung finden nicht statt, wenn von „im guten Glauben gefallenen und geopferten“ Soldaten geschrieben wird, die den Grundstein legten für das „neue Gemeinwesen“. Die Tafel spricht von jeder Schuld frei oder erkennt sie zumindest nicht an. Während den gefallenen „Kameraden“ ausführlich und ehrenvoll gedacht wird, muss nach Spuren der Opfer und Gedenken an ihnen gesucht werden.

Aber natürlich gibt es auch schöne Formen und Orte der Erinnerung an die Gräuel des Nationalsozialismus und dessen Opfer. Unsere Wanderung endete an der Gedenkstätte „Zeichen der Erinnerung“, die ich selber als sehr gelungene Gedenkstätte empfand; an dem Ort, von dem aus zahlreiche Stuttgarter Deportationen stattfanden. Um die Erinnerungsstätte zu betreten muss man an einer großen Betonwand vorbei, auf der chronologisch geordnet die Deportationszüge mit Datum und Ziel stehen. Lediglich das untere Datum sticht heraus, denn es passt nicht in die Chronologie. Auf Nachfrage erfuhren wir, dass es sich hierbei um einen Transport von Sinti handelte, der später hinzugefügt wurde. Wie so oft wurden auch hier die Sinti als Opfergruppe vergessen oder außen vor gelassen. Hinter der Tafel sind die alten Gleise von damals, eingegrenzt mit zwei Betonwänden, einem Zaun und Büschen auf der vierten Seite. Es ist ein nüchterner, kalter Ort, der auf einer Betonwand Informationstafeln hat, die ich aufgrund unseres Zeitdrucks leider nicht lesen konnte. Auf der anderen Betonwand, entlang der Gleise, stehen die Namen der Deportierten. Die nachträglich hinzugefügten Namen der Sinti sind hier in einer anderen Farbe angebracht. Ich persönlich empfand das vor Ort als sehr schöne Lösung, denn dadurch ging ich nochmal an den Anfang der Wand zurück und las dort, dass es sich um die Namen der Sinti handelt, was mir sonst verborgen geblieben wäre. Ich habe aber erlebt, dass dies auf konträre Meinungen stieß. Durch das Konzept, die Namen längst neben den Gleisen anzubringen, hatte ich das Gefühl, die Deportierten beim Lesen ihrer Namen ein Stück zu begleiten, da ich einen Teil derselben Strecke abschritt, die sie damals im Zug fahren mussten.

Orte der Erinnerung gibt es viele. Arten, zu erinnern, zahlreiche. Um Coen Rood irren zu lassen, braucht es jedoch insbesondere eines: Das Engagement zahlreicher (junger) Menschen. Und ich hoffe sehr, dass es daran in Zukunft nicht mangeln wird. Denn Zukunft zu gestalten heißt, sich der Vergangenheit bewusst zu sein.