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Wanderung zum Goldbacher Stollen - Schreckensorte in der Bilderbuchidylle

15. August 2020 | von Thomas Hinz

Es dürfte sich nach dem Urteil vieler Menschen um eine der lieblichsten Landschaften Deutschlands handeln: das Nordufer des Bodensees zwischen Meersburg und Ludwigshafen, die Stadt Überlingen in der Mitte mit dem Blick auf Wasser und Berge. An einem sommerlichen Tag – wie Ferragosto 2020 – sieht alles noch bezaubernder aus.

Seit 2004 arbeite ich in dieser Region, wo, wie es oft heißt, andere Ferien machen, und weiß die Vorzüge der Gegend sehr zu schätzen. Was ich bis zur Wanderung des Campo delle Pace nicht wusste: Auch in dieser Gegend betrieb das NS-Terrorregime eines von über 150 Außenlagern des KZ Dachau, und zwar in Überlingen von Herbst 1944 bis zur Befreiung durch die Alliierten im April 1945. Die etwa 800 Häftlinge verrichteten dort unter katastrophalen Bedingungen Zwangsarbeit im Goldbacher Stollen. Sie trieben in sehr kurzer Zeit eine Tunnelanlage von 4 Kilometern Länge in das Molassegestein am Ufer des Sees. Die Stollen sollten Rüstungsproduktion aus dem nahen Friedrichshafen bombensicher aufnehmen.

Die Wanderung begann dort, wo der Schrecken des NS-Terrors endete: auf dem Friedhof des Außen­lagers, der direkt an der verkehrsreichen Bundesstraße 31, unmittelbar neben der Wallfahrtskirche Birnau, liegt. Dort hat die französische Besetzungsmacht die sterblichen Überreste von 97 Häftlingen be­stattet, welche die SS-Wachmannschaften ursprünglich in einem Waldstück bei Überlingen verscharren ließ. Der französische Stadtkommandant ließ die Leichenteile ausgraben, die Überlinger Bevölkerung sollte an der Überführung der Leichname teilnehmen. Der Kommandant gab ihnen an der Friedhofs­anlage eine letzte Ruhestätte. Bis vor wenigen Jahren erinnerte man – zuständig ist die Gemeinde Überlingen – an 97 Namenlose – wie es auf dem Gedenkstein aus den 1950er Jahren heißt. Statt Namen waren die Häftlingsnummern auf den Grabplätzen angebracht; eine Art von Erinnerungskultur, welche die individuellen Schicksale – man könnte sagen: ganz im Sinne des NS-System – ausblendete. Erst der vor ein paar Jahren umgesetzten Initiative von Oswald Burger und seinem Verein, der an die KZ-Arbeit im Goldbacher Stollen erinnert, ist zu danken, dass nun die Namen, Herkunft, Geburts- und Todestag der hier meist an Entkräftung, Mangelernährung und Krankheiten gestorbenen Menschen erinnert werden. Die größte Gruppe der hier bestatteten Häftlinge waren italienische Kriegsgefangene, die nach Mussolinis Entmachtung und der Kriegserklärung Italiens an Nazi-Deutschland in Gewahrsam genommen worden. Sie galten in den Augen der Nazis als Verräter, war doch das faschistische Italien zunächst mit Hitlers Truppen verbündet, sie wurden in den KZs Berichten zufolge besonders schlecht behandelt.

Die Wanderung führte über das ehemalige Waldgrundstück, wo die Leichen zuerst in ein Massengrab gelegt wurden (heute direkt an einem Verkehrskreisel mit Baumarkt), über den Ort, wo sich das Außen­lager befand (heute ein Parkplatz zu einem großen Lebensmittelmarkt) zum Stollen (heute genutzt, um im Winter Yachten zu einzulagern). Das Gelände der demnächst zu eröffnenden Bundesgartenschau, direkt vor der Stollenanlage, befindet auf ehemaligem Tunnelaushub der KZ-Arbeiter Oswald Burger und der Verein haben an all diesen Orten den Häftlingsschicksalen angemessene Erinnerungstafeln errichtet, die zusammen mit den persönlichen Eindrücken und den mündlichen Erläuterungen unserer Begleiter mein Bild der Bodenseeregion nachhaltig verändert haben. Auch wenn es angesichts der millionen­fachen Morde der Nazis um einen winzigen Ausschnitt des Grauens handelt, ist es wichtig daran zu erinnern, gerade wenn die Sommersonne durch den einzigen Fensterschacht des Stollensystems blinzelt.