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Wanderung zum Goldbacher Stollen

15. August 2020 | von Gaia Quintini

Zwischen dem eigenen Alltag und Erinnerungskultur gibt es nach meinem Empfinden immer Distanz, ganz gleich, wie groß das Interesse ist. Diese Distanz liegt allein schon im Räumlichen begründet. Zum aktiven Erinnern verlasse ich nicht nur mental die eigene Komfortzone, auch die Umgebung wird gewechselt. So sind Besuche in ehemaligen Konzentrationslagern beispielsweise mit weiten Fahrten in Gebiete verknüpft, in denen ich mich sonst nicht aufhalte, ich fahre beispielsweise in ein anderes Bundesland oder extra nach Frankreich, Polen oder Italien. In solchen Gedenkstätten fühle ich mich immer ein wenig abgeschnitten von der Welt, außerhalb, isoliert. Es sind Ballungsräume der Vergangenheit, die nicht mit meiner Wirklichkeit in Berührung kommen. Umso intensiver ist es, mich auf eine Gedenkfahrt direkt vor der eigenen Haustür zu begeben. Auf der Wanderung durch Städte zu kommen, die ich gut kenne. In denen ich Fußball gespielt habe. Oder die als Schulausflugsziele dienten. Die Teil von meiner Kindheit und meinem Erwachsenwerden waren. Der Nationalsozialismus, das wird klar, war nie weit weg. Er war direkt vor der Haustür.

Da sich das Friedenscamp 2020 aufgrund der globalen Corona-Pandemie nicht in seiner angedachten Form realisierten ließ, wurde nach Alternativen gesucht. Als diese wurden je zwei Wanderungen in Italien und zwei Wanderungen in Deutschland geplant. Bei denen in Deutschland war ich als Teilnehmerin dabei.

Die erste dieser Wanderungen traten wir von Konstanz aus an. Wir setzten uns zu einem Teil aus Teilnehmenden des letztjährigen Friedenscamps in Sant‘Anna und zu einem Teil aus Partizipierenden, die zum ersten Mal mit dem Friedenscamp unterwegs waren, zusammen. Treffpunkt war die Konstanzer Fähre, mit der wir und die vier Teamer:innen auf die andere Seeseite übersetzten. Einen kleinen, ersten Teil der Strecke – von Meersburg nach Birnau – fuhren wir mit dem Bus, bis an der dortigen Wallfahrtskirche unser Guide für die Wanderung zu uns stieß. Oswald Burger, der sich mit dem Namen „Ossi“ vorstellte, würde uns bis zu dem Goldbacher Stollen begleiten. Doch bevor es richtig losging war es Zeit für eine Namensrunde. Schließlich kannten sich zwar viele, aber nicht alle von uns Teilnehmenden. Es wurden kleine, selbstgebundene Hefte als sogenannte „Blogblocks“ ausgeteilt, welche uns als Begleiter dienen sollten. Wer mochte, konnte somit in diesen Heften Eindrücke und Gedanken auf schriftliche oder künstlerische Art festhalten. Im Laufe der Wanderung oder während der einzelnen Individuellen Reflexion sollte darüber hinaus ein Bericht oder ein Brief an mögliche italienische Teilnehmende verfasst werden. Zunächst sollte jedoch jeder von uns Wünsche, Ziele und Erwartungen an die kommenden Stunden formulieren und hierin dokumentieren. Es konnten Erwartungen ganz persönlicher Art bleiben; sie mussten nicht mit den anderen Teilnehmenden oder den Teamer:innen geteilt werden. Mir persönlich war zum einen wichtig, mir die unmittelbare Nähe zu den NS-Verbrechen vor Augen zu führen sowie einer Opfergruppe, derer eher weniger gedacht wird und die seltener genannt wird als andere, zu gedenken: den Zwangsarbeitern, deren Schicksal ich mir verdeutlichen wollte. Als Wunsch schrieb ich auf, das Interesse anderer Passant:innen zu wecken. Mir wurde dieser Wunsch erfüllt, denn auf dem Friedhof fragte eine interessierte Dame aus Ungarn bei einer Teamerin nach, was wir für eine Gruppe seien.

Genannter Friedhof war die erste Station, zu der wir uns von der Kirche aus aufmachten. Ich war Jahre vorher schon einmal im Goldbacher Stollen gewesen, konnte mich jedoch nur an diesen Friedhof lebendig erinnern. Er ist als kleines, von Büschen umrahmtes Quadrat angelegt, welches an einem Hang über dem See angebracht ist, auf den sich eine schöne Aussicht bietet. Dieser Kontrast eines traurigen, eigentlich grauenvollen Ortes und eines schönes Ausblickes erinnert an das Friedenscamp in Sant‘Anna, wo die schreckliche Geschichte des Massakers und atemberaubende Natur unmittelbar nebeneinander liegen.

Die Lage des auf Initiative eines französischen Kommandeurs zurückgehenden Friedhofs wurde danach gewählt, an welcher schönen Stelle Menschen vorübergehen und ihn bemerken können. Tatsächlich führt am Fuße der Ruhestätte (leider) eine vielbefahrene Straße vorbei, wenn auch in einer steilen Kurve, die es den Autofahrer:innen nicht ermöglicht, den Blick auf den Friedhof zu heben. Während Ossi über die Entstehung des Friedhofs erzählte, auf dem 97 Ermordete bestattet sind, die zuvor in einem Massengrab verschüttet waren, ging ich ihre rekonstruierten Namen Stein für Stein durch. „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“, wird im Talmud geschrieben. Es ist ein Satz, den ich seit Jahren mit Erinnerungsarbeit verbinde. Ich habe ihn über die Jahre soweit verinnerlicht, dass ich die Namen für mich immer durchgehen muss. Ich habe das Gefühl, die Opfer anders nicht genügend würdigen zu können. Es reicht trotzdem nicht, aber es ist ein Schritt, der für mich persönlich viel ausmacht und dessen Fehlen ich spüre, wenn ich keine Namen habe, mit denen sich wenigstens der Hauch eines persönlichen Schicksals beschreiben lässt. Mir ging es besonders nahe, dass viele der vorwiegend italienischen und rein männlichen Zwangsarbeiter ungefähr in meinem Alter gewesen waren, als Nazis sie durch schwere körperliche Arbeit und mangelnde Nahrung ermordeten. Es waren vorwiegend Italiener, da die Arbeiter aus dem KZ Dachau rekrutiert wurden, in dem sich nach dem Bündnisbruch Italiens viele Italiener befanden. Da gab es beispielsweise Giacomo Morandi, geboren am 28. Februar 1924 in Scareno, welcher am 25. April 1945, nicht lange vor Kriegsende, starb. Oder Luigi Longhi, geboren am 8. März 1925 in Parma, der erst 19 war und 1945 am Tag vor seinem 20. Geburtstag das Leben verlor. Auch zwei Brüder entdeckte ich in jenem KZ-Friedhof bei Birnau, Girolamo und Andrea Andalfatto, der eine Jahrgang 1924, der andere Jahrgang 1925. Traurigerweise lagen ihre Grabsteine nicht nebeneinander, sondern einige Reihen voneinander entfernt. Dabei wäre es möglich gewesen.

Da man die Leichen aus dem Massengrab bei ihrer Bergung nicht mehr identifizieren und auch nicht mehr voneinander trennen konnte – einige waren ineinander verkeilt und miteinander verwachsen –, waren auf dem Friedhof zunächst 42 schlichte Kreuze mit Nummern angebracht. Die Toten waren zu Lebzeiten zu Nummern degradiert worden und blieben dies auch nach ihrer Ermordung. Erst durch die Recherchen Oswald Burgers bekamen sie post mortem Namen zurück, selbst wenn sich nicht mehr feststellen ließ, welcher Name zu welcher Leiche gehörte. Immer wieder, so teilte uns Ossi mit, wurde und wird der Friedhof Ziel neonazistischer Angriffe und Schmierereien.

Zur weiteren Wanderung bekamen wir Biographien der auf dem Friedhof Bestatteten ausgeteilt, über die wir uns mit anderen austauschen sollten. Dabei sollten wir besonderes Augenmerk auf Merkmale und Formen von „Zusammenhalt“ legen. Viele dieser Biographien waren bruchstückhaft und bei manchen Häftlingen wusste man kaum mehr als den Namen, da die Recherche viele Jahre nach dem Krieg nur sehr schwer vorangetrieben werden konnte. Bei der Betrachtung dieser unterschiedlichen Kurzbiographien wurde deutlich, mit welcher Willkür die Häftlinge teilweise festgenommen und deportiert wurden. Zwar gab es welche, die sich in (partisanischen) Widerstandsgruppen engagiert und organisiert hatten, einige wurden jedoch als Vergeltungsmaßnahme oder aus vollkommen banalen Gründen festgenommen. So war zwar der bereits genannte genannten Luigi Longhi schon als junger Mann daran beteiligt, Untergrundpresse zu verteilen, auf der Biographie Gioachino Giordanos, die ich erhielt, stand jedoch, dass dieser lediglich verhaftet wurde, weil er bei einer Razzia keine Papiere bei sich trug. Mit den Geschichten der Ermordeten wanderten wir weiter zu dem Massengrab, in dem sie unliebsam verscharrt worden waren. Hier gab es nicht viel zu sehen. Wie auch der Friedhof lag es an einer vielbefahrenen Straße, in einem ehemaligen Waldstück. Wir konnten nicht direkt bis zu dem Massengrab vordringen, das auf dem Grundstück einer Firma liegt und hielten stattdessen an dem für sie errichteten Gedenkstein inne, etwa zwanzig Meter vor der besagten Stelle. Ossi erzählte von einem Metzger, der Inhaftierten geholfen hatte und nach dem Krieg von den Franzosen als Bürgermeister eingesetzt worden war sowie davon, dass sich nach dem Krieg alle Bürger:innen auf dem ehemaligen Adolf-Hitler-Platz versammeln mussten, um sich die dort aufgestapelten Leichen anzusehen.

Nachdem wir diese Stationen nun hinter uns hatten, ging es weiter zum Goldbacher Stollen, wo Oswald von seinem Kollegen Michael abgelöst wurde, der von nun an die Führung übernahm. In dem Stollen, dessen Eingang fast direkt am See war, war es merklich kälter als außerhalb, die Temperatur dort bleibt konstant bei um die 11 Grad Celsius. Ich schämte mich ein wenig für meine zunehmende Kraftlosigkeit, denn unsere schmerzenden Füße und unsere kollektive Müdigkeit konnten nicht ansatzweise an die Bedingungen herankommen, unter denen die Inhaftierten von Überlingen-Aufkirch hier in 12-Stunden-Schichten arbeiten mussten, ungeschützt und ohne Essen. Ich empfand es als zynisch, dass uns gesagt wurde, der spätere Campingplatz Überlingens sei auf dem abgetragenen Material des Stollens errichtet worden. Durch die riesigen, gegrabenen Gänge, die nach dem Krieg aus Sicherheitsgründen mit Beton ausgekleidet wurden, passten Fahrzeuge. Ursprünglich waren sie zur Verlagerung wichtiger Rüstungsbetriebe vorgesehen, jedoch kam es nie zur Fertigstellung. Drei- bis vierhundert Gefangene mussten hier gleichzeitig arbeiten, Tunnel graben und Geröll rausschaffen. Sprengungen markierten das Ende einer jeden Schicht. Am Ende des Krieges hatten die Häftlinge einen kilometerlangen Tunnel in den Fels gegraben, von dem 3,6 km begehbar sind.

Neben den schlimmen Geschichten körperlich vernichtender Arbeit und unmenschlicher Lebensbedingungen sowie dem Besuch auf Friedhof und Massengrab gab es zum Schluss der Führung aber auch positives zu berichten: die Geschichte zweier Gefangenen, eines Österreichers und eines Ukrainers, denen, in einer Lore versteckt und zur Ablenkung der Hunde mit Diesel übergossen, die Flucht aus dem Stollen bis in die Schweiz gelang.

Auch für uns ging es jetzt ins Freie und als Gruppe ließen wir den Tag am See ausklingen, bevor wir mit dem Bus zurück nach Meersburg fuhren und von da aus die Fähre nach Konstanz nahmen. Hier trennten sich unsere Wege; einige mussten nach Freiburg weiterreisen, andere kamen aus der Nähe von Ludwigsburg. Der gemeinsam erlebte Tag jedoch sowie die Stollenbesichtigung werden den ein oder anderen von uns bestimmt noch länger beschäftigen.