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Nachruf Enrico Pieri

11. Dezember 2021 | Pietrasanta / Stuttgart

Nachruf Enrico Pieri

Überleben um zu erzählen

Enrico Pieri, Überlebender des Massakers vom 12. August 1944 in Sant’Anna di Stazzema (Toskana), ist am 10. Dezember im Alter von 87 Jahren in Pietrasanta gestorben. Er hatte das Kriegsverbrechen der Waffen-SS als Zehnjähriger miterlebt und dabei seine ganze Familie verloren. Nach einer belasteten Jugend und einer längeren Phase als „Gastarbeiter“ in der Schweiz kehrte er nach Italien zurück und widmete bis zu seinem Lebensende seine ganze Energie der Erinnerungsarbeit in Sant’Anna, insbesondere mit jungen Menschen, darunter auch viele aus Baden-Württemberg.

Darüber hinaus wurde er dadurch bekannt, dass er sich für die strafrechtliche Verfolgung der Täter von Sant’Anna einsetzte. Sein Engagement für Gerechtigkeit ging über das, was ihn persönlich betraf, weit hinaus. Als Nebenkläger im Ermittlungsverfahren gegen zehn des Mordes Beschuldigte oder der Beihilfe dazu nahm er als Präsident der Opfervereinigung von Sant’Anna auch die Interessen der Menschen wahr, die mit ihm den Verlust von Angehörigen erlitten hatten. Rache zu nehmen, war nicht sein Anliegen. Es ging ihm darum, die Täter mit ihren Taten zu konfrontieren.

Was hatte Enrico Pieri mit Stuttgart und Baden-Württemberg zu tun? Die Staatsanwaltschaft Stuttgart hatte 2002 ein Ermittlungsverfahren eröffnet, es allerdings nach zehn Jahren schleppender Ermittlungen, am 26. September 2021 eingestellt. Dagegen formierte sich in Stuttgart Protest, eine Gruppe – organisiert vom Verein Die AnStifter – reiste mit einer Solidaritätserklärung und Spendenmitteln im Gepäck nach Sant’Anna. Der Beginn einer besonderen Freundschaft mit Enrico Pieri.

Im Januar 2013 gab er bei der Stuttgarter Generalstaatsanwaltschaft – der Zutritt wurde ihm verwehrt – seine Beschwerde gegen die Ermittlungseinstellung ab, begleitet und unterstützt von etwa 200 Menschen. Nach zwischenzeitlichen Erfolgen dann 2015 das Aus: Die Täter konnten in Deutschland juristisch nicht mehr belangt werden, nachdem die Hamburger Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen den letzten Beschuldigten eingestellt hatte. Für Enrico Pieri eine große Enttäuschung – ein „Zweites Trauma“, so der Titel eines Films über diese Geschichte.

Zuvor hatte Pieri 2013 zusammen mit seinem Mitstreiter Enio Mancini den Stuttgarter Friedenspreis der AnStifter entgegennehmen können. Aus der Begegnung mit Ministerpräsident Kretschmann ging schließlich ein Jugendbegegnungsprogramm hervor: Seit 2017 treffen sich einmal jährlich junge Leute aus Italien und Deutschland in Friedenscamps in Sant’Anna und Stuttgart – gefördert vom Land Baden-Württemberg und vom Auswärtigen Amt. Enrico Pieri hat diese Begegnungen wesentlich geprägt durch seine Berichte, durch den Dialog mit den Teilnehmenden. Mindestens so wichtig wie der Blick in die Vergangenheit waren für ihn politische Konsequenzen für die Zukunft: Orientierung auf die Grundsätze und Werte von Demokratie, Menschenrechten und internationaler Verständigung.

Für sein Engagement für ein Europa der Menschenrechte, der Demokratie und der Überwindung von Grenzen wurde er wiederholt ausgezeichnet, in Deutschland unter anderem mit dem Stuttgarter Friedenspreis (2013) und mit dem Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik (2020).

Seine menschliche Wärme, seine Glaubwürdigkeit, seine Überzeugungskraft, seine durch Bescheidenheit verstärkte moralische Vorbildwirkung – das alles, der Mensch Enrico Pieri wird uns sehr fehlen.

Enirco Pieri ist am 10. Dezember 2021 gestorben.

 

Eberhard Frasch, Stuttgart 11.12.2021

 

“Das schmerzhafte Trauma, das ihm als Kind zugefügt worden war, machte ihn zu einem Mann, der in der Lage war, sich dem Hass zu stellen und ihn in Hoffnung zu verwandeln, eine Welt der Gerechtigkeit und des Friedens zu verwirklichen.“

Nachruf der ANPI/Partisanenvereinigung Lucca/Viareggio