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In Vielfalt geeint - Das Friedenscamp 2019

2. November 2019 | von Gaia Quintini

Ein unscheinbarer, aber doch einladend schöner Satz steht an der Fassade unserer Herberge in Pruno Pania forata geschrieben: „Rufe alle Menschen zu [...] Frieden auf, [...] und einer stetigen Vertiefung zur Harmonie.“

Beim ersten Betreten der Herberge war vielen von uns dieser Satz nicht aufgefallen, spricht er uns allen aus dem Herzen. Steht er doch für das Ereignis, für welches wir junge Menschen nach Sant’Anna gekommen sind, zum Campo della Pace, in dessen Namen das große Wort Frieden steckt.

Warum eigentlich Frieden?

Sind wir nicht hier, um zu gedenken, zu erinnern? Vielleicht klingt es ein bisschen weit gegriffen oder anmaßend, zu sagen, dass wir hier sind, weil wir Frieden stiften wollen, Frieden bewahren wollen. Erinnern soll kein bloßes Aneinanderreihen und Wiederholen von Geschehenem sein. Nicht einfach ein paar wenige Tage, an denen man etwas oder jemandem gedenkt, danach auseinandergeht und wieder seinem eigenen Weg folgt. Kein Erinnern um des Erinnerns Willen, sondern ein Erinnern mit einem bewussten Ziel vor Augen. Ein Erinnern, das etwas in uns umstößt und in uns gedeihen lässt, nämlich selbst Sorge dafür zu tragen, dem Wunsch der wenigen Überlebenden gerecht zu werden: „Nie wieder Sant’Anna.“

Das menschliche Gedächtnis hat nicht nur die Aufgabe, Vergangenes zu bewahren, sondern auch früheren Geschehnissen eine Bedeutung im Gegenwärtigen zu verleihen. Diese Aufgabe übergeben die Überlebenden von Sant’Anna an uns junge Generation. Von jenen Menschen lassen wir uns inspirieren, Friedensstifterinnen und Friedensstifter zu werden.

Man vergisst zu leichtfertig, dass jenes friedliche Europa, welches wir kennen, in dem wir junge Menschen aufgewachsen sind, keine Selbstverständlichkeit ist, sondern schwer erstritten werden musste. Man muss sich bewusstmachen, dass der erstrebenswerte Wunsch „Nie wieder Sant’Anna“ unerfüllt bleiben wird, so lange täglich Menschen auf der Flucht aus ihrer Heimat im Mittelmeer ertrinken oder in Lager gesteckt werden. Die Bewohner Sant’Annas wiederum halfen den vor dem Krieg fliehenden Menschen, nahmen sie in ihre Häuser auf und teilten ihr Hab und Gut.

Sie hatten nichts und gaben alles.

Wir haben alles und geben nichts.

Der Erinnerung traut man nicht nur eine bewahrende, sondern auch eine verwandelnde Kraft zu. Sant’Anna ist ein Ort des äußersten Kulturbruchs, dort wo das Menschsein an sich in Frage gestellt wurde. Bei den Geschichten von damals, seien sie mit noch so viel Kraft und Lebensmut vorgetragen, lassen sich Trauer und Schmerz nicht verbergen. Die Grausamkeit, die diesen Menschen – insbesondere Kindern, Frauen und Alten, – zugefügt wurde, lässt sich nicht begreifen. Doch anstatt sich in der eigenen Fassungslosigkeit zu verlieren, sollte der Stimme der wenigen Überlebenden Gehör verschafft werden.

Wo Menschen nur dem eigenen Ideal nach unterscheiden, zwischen richtig und falsch, zwischen schwarz und weiß, da verweigern sie sich der Realität. Wo aufgrund von extremem Leid die Zuordnung von Sinn und Zweck der Taten nicht mehr möglich ist und wir nach dem Warum fragen, finden wir zur zwei Antworten:

Die eine wäre, den Tätern jegliche Menschlichkeit und menschengegebene Vernunft abzusprechen. Aber deren Verhalten, sei es noch so entsetzlich, bringt unser Weltbild nicht ins Wanken. Die andere wäre der Versuch, einen vermeintlichen Sinn hinter den schrecklichen Taten zu finden. Beide Antworten sind weder zufriedenstellend noch nachvollziehbar.

Versuche, zu erklären, was geschehen ist, müssen sich stets mit dem möglichen, oft erhobenen Einwand auseinandersetzen, sie verharmlosen das Geschehen. Nun kann man aber sagen, dass das Bedürfnis nach Erklärung historischer Ereignisse eben genau in dem Wunsch besteht, Geschichte weniger beunruhigend, harmloser aussehen zu lassen. Im Falle des Nationalsozialismus und des Faschismus kollidiert dieser eher unterbewusste Wunsch aber mit der ebenso eher unterbewussten Einsicht, wir könnten uns die Befriedigung dieses Wunsches nicht leisten.

Wir werden eine Antwort auf das Warum nicht finden, wir können nur unser Leben lang nach Harmonie streben. Und dieses Streben fängt hier und jetzt im Gegenwärtigen an. Denn das, was aktuell in unserer Heimat, an unseren Grenzen geschieht, wird beiseitegeschoben und ausgesperrt. Was geht es uns an, wenn Fremde, Menschen, die vermeintlich „anders“ sind, ausgegrenzt werden, leiden, sterben?

Empathie ist eine grundlegende menschliche Eigenschaft, die uns Anteil nehmen lässt an dem Schicksal anderer, die es uns ermöglicht, in Harmonie zu leben. Die Empathie befähigt uns Erlebnisse mit anderen zu teilen, ob traurig oder schön, ob Leiden oder Freuden.

Der Satz auf der Fassade unserer Herberge passt auch deshalb, weil wir derartige Sätze auch von den Kindern des 12. August 1944 zu hören bekamen. Kinder, die ihre Freunde verloren haben, ihre Schwestern und Brüder, Mütter und Väter. Kinder, deren Leben innerhalb eines Augenblicks zerstört wurde. Kinder, die alleine heranwuchsen und wieder lernen mussten, zu lieben. Sie wurden zu Menschen, die ihren Hass überwanden, weil sie erkannten; wer Hass sät, erntet keine Liebe. Es scheint unmöglich, dass jemand, dessen Familie von „den Deutschen“ ermordet wurde, seine Kinder auf deutschsprachige Schulen schickte. Und doch, es geschah. Es geschah aus dem Wunsch heraus, Frieden zu stiften und eine (menschliche), harmonische Zukunft zu schaffen. Oder in den Worten von Enio Mancini: „Nichts Höheres kann ein Mensch anstreben, als sich für den Frieden einzusetzen.“